Der Konflikt: USA (EU) - UKRAINE - RUSSLAND 

 

von Botschafter und Staatssekretär a.D. Jürgen Chrobog: Um es gleich vorwegzunehmen. Meine Sympathien liegen nicht bei Präsident Putin. Seinen Drohungen und Erpressungen muss der Westen geschlossen entgegentreten. Man sollte aber Fakten und Entwicklungen prüfen, bevor man einseitig urteilt.

 

von Jürgen Chrobog,

deutscher Botschafter in den USA und Staatssekretär des Auswärtigen a.D., Präsident des Europäischen Senates-Politik der Wir Eigentümerunternehmer, Partner Berlin Global Advisors, Beraterstab Consileon Business Consultancy, Karlsruhe

 

Durch die Auflösung der Sowjetunion und die Umwälzungen in Deutschland und Europa hatte die damalige Sowjetunion ihre Machtstellung in Europa aufgegeben. Die Auflösung des Warschauer Paktes und die Ostweiterung der NATO haben zu ihrer weiteren Schwächung geführt. Gorbatschow und Jelzin konnten unter Zurückstellung eigener Großmachtansprüche mit dieser Entwicklung leben, zumal sich auf unserem Kontinent in Ost und West ein Fundus an Vertrauen aufgebaut hatte. Dieser hat sich inzwischen verbraucht. Obamas Charakterisierung Russlands als Mittelmacht war ein Affront und wurde in Moskau als Verächtlichmachung registriert. Putin hat die Auflösung der Sowjetunion zum größten Fehler der Geschichte erklärt.

 

Die Tatsache, dass die EU der Ukraine ohne vorherige Konsultationen mit Moskau ein Assoziierungsabkommen anbot, war der Auslöser des folgenden Konfliktes und wurde dort nicht zu Unrecht als Provokation empfunden.  Man hatte und hat auch heute noch den Verdacht, dass dies der erste Schritt zu einem NATO-Beitritt der Ukraine sein würde. Das wäre für Russland inakzeptabel gewesen und ist es noch heute. Statt dieses Land als eine Brücke zwischen Ost und West zu nutzen und nach Gemeinsamkeiten zu suchen, kam es zur Ausgrenzung. Aus Moskauer Sicht ist die Nato nach ihrer Erweiterung schon bedrohlich nahe an die russischen Grenzen vorgerückt. Selbst Henry Kissinger hatte sich damals gegen einen Beitritt der Ukraine ausgesprochen. Die Infiltration der Ostukraine und die Annexion der Krim waren die russische Antwort. In Brüssel und den Hauptstädten der EU hatte man die geschichtliche und politische Bedeutung der Ukraine für Russland unterschätzt. Der Ausschluss Russlands aus internationalen Organisationen wie z.B. den G8 war dennoch ein Fehler. Nur als Mitglied internationaler Organisationen hätte sich die russische Regierung ständig der Kritik stellen müssen.

 

Die Bundesregierung wird wegen ihrer Ablehnung von Waffenlieferung an die Ukraine international kritisiert. Der Grundsatz, keine Ausfuhren in Spannungsgebiete hat zwar seine historische und moralische Begründung. Wenn diese aber in ihr Gegenteil umschlägt, z.B. wenn es um die Existenz von Staaten wie der Ukraine geht und die Solidarität im Bündnis eingefordert wird, muss man über diese Frage aber noch einmal nachdenken. Der Grundsatz, man sollte nie „nie“ sagen, gilt auch hier. Die Kritik, die Deutschland diesseits und jenseits des Atlantiks auf Grund seiner ambivalenten Haltung entgegenschlägt, sollte ernst genommen werden. Im äußersten Fall wird die Bundesregierung gezwungen sein, ihre Position zu überprüfen und über den Export von Defensivwaffen nachzudenken. Die Lieferung von deutschen Waffen würde allerdings zur Eskalation beitragen, ohne das militärische Gleichgewicht nachhaltig zu verändern. Sie würde auch unsere Rolle in Verhandlungen im Normandie-Format schwächen. Aber wir können nicht auf Dauer gegen den Strom schwimmen. Das gilt auch für Wirtschaftssanktionen, natürlich einschließlich Nord-Stream 2.

 

Man fragt sich zurzeit zu Recht, wie weit Putin zu gehen bereit ist. Es ist schwer vorstellbar, dass er einen Krieg anstrebt. Er ist ein rational denkender Mensch und kein Spieler. Er kennt die wirtschaftlichen Schwächen seines Landes. Mit der Stimmung in der Bevölkerung scheint es nicht zum Besten zu stehen. Covid 19 und die Lage auf dem Arbeitsmarkt wirken sich prekär aus. Durch seine aggressive Haltung einschließlich militärischer Optionen hat Putin schon aus Prestigegründen Probleme seine Forderungen aufzugeben: Verzicht auf eine weitere Ausdehnung der NATO wie auch die angeblichen westlichen Bemühungen, die Ukraine zu ihrem Einflussbereich zu erklären. Er verlangt eine entsprechende schriftliche Erklärung der USA, bevor er die russische militärische Präsenz verringert. Der Westen kann sich seinerseits auf diese Forderungen nicht einlassen, ohne Ansehen in der Welt zu verlieren. Beide Seiten befinden sich in einer Falle, aus der sie herauskommen müssen. Hans-Dietrich Genscher hatte beim Thema zukünftige Einbeziehung der DDR in die NATO die geniale Idee ein politisches Umfeld zu schaffen, das in der Sowjetunion ausreichend Vertrauen schaffte, diesen Schritt, mit dem kaum jemand rechnete zu gehen. Sollte das heute nicht wieder möglich sein? Putin verlangt Augenhöhe mit den USA. Er will Respekt und nicht als Präsident einer Mittelmacht angesehen werden. Ist das so schwer durch Gesten und Formulierungen zu erreichen?

 

Deutschland und Frankreich hatten das Normandie-Format entwickelt, als GB noch ausschließlich mit sich selbst und dem Brexit befasst war. Auch die US-Regierung war damals nicht sehr präsent. Deutschland und Frankreich sollten hier wieder eine wichtige Rolle übernehmen. Die derzeit in Paris laufenden und in zehn Tagen in Berlin fortzusetzenden Normandie- Verhandlungen müssen weitergeführt werden. Acht Stunden Gespräche in Paris zeigen, dass es genug Gesprächsstoff gibt.

Moskau muss verbal abrüsten und vertrauensbildende Schritte an der ukrainischen Grenze machen. Die derzeitige Massierung von Truppen und Material an der Grenze der Ukraine bleibt trotz Putins Versicherung, keinen Krieg zu wollen, bedrohlich. Für die Russen bleiben die eigentlichen Sparringspartner die USA. Letztlich sind nur sie in den Augen Putins satisfaktionsfähig und müssen ebenfalls eine Geste machen. Die an Moskau übermittelte offensichtlich unnachgiebige Antwort scheint noch keinen Ansatz für neue Überlegungen zu bieten.

 

Auch die Ukraine ist gefordert. Sie erhält massenhaft Waffen von allen Seiten. Diese mögen kurzfristig ein Mindestmaß an Sicherheit bieten. Langfristig lässt sich aber die Region damit nicht stabilisieren. Dazu sind die Gewichte zu unterschiedlich verteilt. Für die Ukraine müssen mit ihr gemeinsam langfristige Lösungen unter Einbeziehung der Menschen im östlichen Teil erzielt werden. Zu Beginn des Konfliktes waren wir gar nicht einmal weit davon entfernt.

 

Noch eine Bemerkung zum Schluss: Machtstreben und Prestigefragen sind abhängig von der innenpolitischen Stimmung. Hier haben beide Seiten Probleme mit ihrer eigenen Bevölkerung. Das gilt heute auch besonders für Russland. Das Misstrauen ist groß. Die Kontrahenten sollten sich in die Schuhe des jeweils anderen stellen. Warum sehen wir die Russen aus unserer Sicht als Gefahr und verstehen nicht, dass sie ebenso Gründe haben, den Westen ebenso wahrzunehmen.  Es ist nicht auszuschließen, dass sich Trump nach den nächsten Präsidentschaftswahlen wieder in Washington zurückmeldet. In Anbetracht der Tatsache, was er in den vergangenen Jahren geboten hat, muss man fragen, wer mehr Vertrauen verdient, Trump oder Putin? M.E. spricht nur insofern etwas mehr für die USA auf Grund der dort stabileren Strukturen. Aber sicher bin ich nicht. Ich sehe viele Ähnlichkeiten in der Gesellschaft in beiden Ländern.

 

Die Hauptgefahr besteht heute darin, dass sich die ständig ausgetauschten Drohungen verselbständigen und durch ein falsches Kommando oder einen Unfall ein militärischer Konflikt ausgelöst wird. Die Konzentration von über Hunderttausend frierenden und frustrierten russischen Soldaten an der Grenze zur Ukraine plus Unmengen von schwerem Gerät, sind schon eine Gefahr an sich.

 

Berlin, 28.01.2022

 

Jürgen Chrobog